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sternefresser 26.12.2005 17:46

sternefresser zu Gast im 44, Berlin
 
Das Phänomen ist hinlänglich bekannt: Bisweilen sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. So oder so ähnlich muss es wohl unseren Freunden vom Guide Michelin in den vergangenen Jahren stets ergangen sein, wenn sie bei Tim Raue hineingeschnuppert haben. Zugegeben, Raue hat in seiner ihm eigenen Art die ein oder andere Schneise geschlagen, die die Tester gewissermaßen auf den Holzweg geraten ließ. Doch ist es nicht deren Aufgabe, das Glimmen potenzieller Sterne aufzuzeigen, bevor halb Frankreich dort zu Gast war?

Abseits jeder Vergangenheitsbewältigung erlebten wir einen gereiften Tim Raue, der in seiner Arbeit und seinem Umfeld aufgeht, ohne es jedoch zu vernachlässigen, aktiv und leidenschaftlich an seiner Weiterentwicklung zu arbeiten. Raues Kochstil orientiert sich konsequent, wie vielleicht derzeit nur der von Joachim Wissler und Juan Amador, an den Lehren von Ferran Adria. Das elegante Umschmeicheln eines Produktes mit Kompositionen, die dem eigentlichen Kern nicht zwingend naheliegen und die hier heraus entstehenden Kreationen schaffen Geschmackserlebnisse, die intensiver und erlebnisreicher nicht sein könnten.


Haben gut lachen: Tim Raue und die Sternefresser

Zum Auftakt des Evolutionsmenüs ein herrlich leichter und großartig aromatischer Einstieg in den Abend mit Apfelgelee&Apfel, Estragon und Ingwereis zu den King Crab. Die pochenden Aromen, die sich aus den Temperaturkontrasten von Eis und Kernzutat ergeben, sind hinlänglich bekannt. Viel spannender ist, was Raue dem so selten aktiv eingesetzten Apfel in gelierter Form im Zusammenwirken mit dem Ingwereis angedeihen lässt. Chapeau! Die Reduktion der Frucht – ähnlich der Zugabe des Pflaumenweingelees beim Atter-Ox – ist echte Kochkunst und arbeitet diffizile geschmackliche Nuancen heraus.

Die nachfolgende Kaisergranaten (mit Zimtjus glaciert sowie mit Salat von Orange und Rosenkohl und Koriander) sowie der gedämpfte Rascasse mit Petersilie und Zitrone steigern stufenweise die Geschmackserlebnisse. Anders als bei Adria wird der Gaumen nicht durch ständig wechselnde Highlights in Anspruch genommen, sondern in schrittweisen Akkorden herausgefordert.


Amouse Bouche: die 'Kaviar-Stulle'

Unser persönliches Highlight an diesem Abend war das geräucherte Aalfilet auf grüner Pfefferbrandade, geschmorter Rote Beete und Lauch. Ein so selten eingesetztes Ingredenzium wie der Aal blüht mit wenigen aber exakt getimten Zutaten auf und entfacht ein sanft rauchig aber butterzartes Gaumenspiel.

Viele Küchen setzen auf den Effekt hochwertiger, klassischer Zutaten in einer klassischen Zubereitung. Bei guter handwerklicher Arbeit meist ein Heimspiel beim Guide Michelin. Wo aber bleibt hier Können und Bewusstseinserweiterung? Findige Menschen haben hierfür in den 70er Jahren LSD auf den Plan gerufen – wir sind sicher, Tim Raue in seiner heutigen Form hätte dies verhindern können. Eine Tatsache, die sich einmal mehr beim geschmorten Atter-Ox zeigt. Das Fleisch, das im Garungsprozess sanft aber nachhaltig die Aromen von Kakao, Datteln und Trüffeln aufgesogen hat, wird ganz herzlich durch das bereits erwähnte Pflaumenweingelee „gestört“. Reibung erzeugt Energie möchte man denken. So auch an dieser Stelle und man ist gewillt den Abend mit all den bisherigen Erlebnissen einfach einzufrieren.


Erster Preis beim Grand Marnier Wettbewerb: "Delice von Orange und weißer Schokolade" von Janine Sens

Es war uns nicht vergönnt, ein Ende zu finden (und nachträglich sagen wir auch hierfür: Danke!). Insbesondere die großartige Dessertvariation Delice von Orange und weißer Schokolade von Katja Lüdecke und Janine Sens, die beim aktuellen Grand Marnier-Wettbewerb den ersten Platz belegte, fesselte uns. Die in der Konsistenz festeren Orangencrumbles gewinnen bereits im Duell mit dem Champagner-Vanillegelee an Größe – das weiße Schokoladeneis tut zur Abrundung sein eigenes dazu.

Joachim Wissler hat seines Zeichens drei Sterne, Juan Amador inzwischen zwei - was also macht Raue anders als seine Kollegen? „No Idea“, bleibt uns zu entgegnen - wir konnten es nicht herausfinden. Insbesondere der nur knapp zwei Wochen zurückliegende Vergleich mit Joachim Wissler brachte unserem Gaumen kaum substanzielle Unterschiede.

Der Service kann diesem hohen Menü ohne Zweifel parieren. Einmal herausgefordert, wird Ästhetik und Tonality der Küche gekonnt aufgegriffen und die einzelnen Gänge durch ein Lächeln versüßt. Dies kann durchaus auch durch die korrespondierende Weine gelingen, wenngleich wir die dringende Empfehlung aussprechen müssen, niemals zu versuchen 2 von Raues Kreationen mit nur einem Wein 'unter einen Hut' zu bekommen. Dieses Vorgehen überschattet die ansonsten vorherrschende Perfektion der Gerichte und schmälert das Genusserlebnis.

Das 8-gängige großartige Evolutionsmenü zeigt, dass Raue im letzten halben Jahr noch deutlicher den Weg eingeschlagen hat, sein Spektrum zu fokussieren. Der Platz auf dem Teller wird nunmehr nicht mit Allerlei, sondern mit der Essenz von Raues Kreativität bedeckt - das tut Teller und Gast gut und lässt die Fähigkeiten Raues noch deutlicher zum Tragen kommen.





Eine Fortentwicklung, die sich sowohl bei Ausstattung als auch Branding fortsetzt: Kreative Ideen und Mut zur Umsetzung – so gehört Tim Raue unter die Sterneköche Deutschlands. Seine aktive Kommunikation zeigt nur zu deutlich, dass er ein Koch ist, der mit dem Herzen bei der Sache ist und wie ein Schwamm jede noch so kleine Idee aufsaugt und nach einer scharfen Selektion in seinem Wirken aufgehen lässt.

Wir haben in den vergangenen 6 Monaten keinen Koch kennen gelernt, der eine Auszeichnung mit dem bekannten Stern deutlicher verdient hätte. Auch wenn Raues Mannschaft ohne eine Portion Französisch gut auskommt, gilt hier: Hochmut kommt vor dem Fall. Einen inzwischen erfahrenen Gastronomen mit gewagten aber substanziellen Konzepten, Teamfähigkeit, hohen social skills und gleichzeitig nachweisbarem Publikumserfolg gekonnt zu ignorieren, schafft unter Umständen eines Tages bei den Lesern eine zweifelhafte Lobby.

Raue´s Schale, Gourmet´s Kern: Leidenschaft, Kreativität und Kochkunst inmitten unserer Hauptstadt wird im kommenden Jahr stärker belohnt – wir sind uns dabei sicher. Ihre Stimme zählt!


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